Nach dem Lesen des wunderbaren Buches "Altern" von Elke Heidenreich habe ich in meinem Buch "Immer schaut ein Mensch hervor" nachgelesen, was ich über das Altern geschrieben habe. Das Buch erschien in erweiterter Auflage 2020.
Manche Empfindungen, die Elke Heidenreich in Ihrem Buch schrieb, stimmen mit denen in meiner Erzählung überein.
Hier nun mein Kapitel meines Buches.
Altern
„Das
ist nun der Ruhestand“ denkt sie und sieht versonnen auf den Zapfhahn der
Tanksäule.
Gluckernd
rinnt der Dieselkraftstoff in den Tank ihres Autos.
Noch
vor wenigen Tagen saß sie um diese Zeit an ihrem Schreibtisch im Großraumbüro.
„Das
war Leben! Aktion von morgens bis abends“, denkt sie.
Sie
war immer auf den letzten Drücker ins Büro gestürmt, hatte vorher schon einen
Spaziergang mit ihrer Hündin gemacht und die Fahrt ins Büro war oft an der
Grenze der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gewesen. Im Herbst und Frühjahr war
sie der aufgehenden Sonne entgegengefahren und auf dem Rückweg hatte der Schein
der untergehenden Sonne die vor ihr liegenden Stunden vergoldet.
Oftmals
hatte bereits bei ihrem Betreten des Büros das Telefon geklingelt, bevor sie
ihren Mantel an der Garderobe aufgehängt hatte. Der Computer war hochgefahren, während sie schon
eine Notiz auf einen Zettel schrieb.
Und
so war es weitergegangen. Der Terminkalender war voll gewesen und aus der
Schublade hatte sie die zu erledigenden Unterlagen geholt. Kaum dass sie dazu
gekommen war, sich einen Tee in der kleinen Küche am Ende des Flurs zu kochen.
Und dennoch: diese kurze Zeit hatte gereicht, um mit Kolleginnen und Kollegen
ein paar Neuigkeiten auszutauschen, zu lachen oder auch ernste Worte zu
wechseln. Der Tag hatte voller Power begonnen und meist auch so geendet.
Sie
hatte sich wach und lebendig und jung gefühlt, auch nach einem langen
Arbeitstag.
Und
nun musste sie sich im neuen Leben einrichten, die Stunden füllen, die leer und
lang vor ihr lagen.
Wie
oft hatte sie sich das gewünscht: einfach viel mehr Zeit für sich und all die
Dinge zu haben, die sie verwirklichen wollte.
„Du
wirst bestimmt keine Langeweile haben.“ Das hatte sie mehrfach in den letzten
Wochen gehört und sie hatte stets zustimmend genickt.
Nein,
Langeweile würde sich sicher nicht endgültig in ihrem Leben ausbreiten, dessen
war sie sich sicher.
„Gönnen
sie sich erst einmal die Ruhe“, hatte ihr Vorgesetzter gesagt und sie hatte ihn
erstaunt angesehen.
„Mache
ich den Eindruck, als ob ich die Ruhe nötig hätte?“
„Nun
ja, ab einem gewissen Alter ist es doch einfach schön, wenn man all die Dinge
mit ein wenig mehr Muße angehen kann. Vielleicht ein wenig länger zu schlafen,
in Ruhe zu frühstücken und in den Tag zu gleiten.“
Da
war es benannt worden: das Alter. War sie nun alt?
Sie
war zum Schluss die Älteste im Büro gewesen, das stimmte. Es waren schon die
Kinder ihrer früheren Kolleginnen gewesen, mit denen sie zusammenarbeitete.
Aber war sie deswegen schon alt?
Sicher,
nicht immer hatte sie über deren Späße lachen können und ihre Lautstärke hatte
sie oftmals genervt.
Doch
dann hatte sie sich daran erinnert, wie es war, als sie als junge Frau in diese
Abteilung gekommen war und inmitten der alten Kollegen mit dem gleichaltrigen
Schreibtischnachbarn gescherzt und gelacht hatte. Dann war oftmals der tadelnde
Zuruf gekommen: „Ruhe! Sind wir hier denn in einem Zirkus?!“
So
hatte sie niemals werden wollen und einen Hinweis auf Ruhe hinuntergeschluckt,
selbst als sie immer mehr Ruhe benötigt hätte, um sich auf ihre Arbeit
konzentrieren zu können. Ein Zeichen des Alterns?
Alter
– wann ist es ihr erstmals begegnet?
Lächelnd
denkt sie an eine Begebenheit.
Sie
war um die Dreißig gewesen und hatte
stolz eine Rezension im Büro gezeigt, in der ein Kritiker geschrieben hatte:
„Eine junge Frau, die vorbehaltslos ihre Seele strömen lässt.“ Da hatte der
Praktikant laut prustend gelacht: „Hahaha, junge
Frau!“
Aber
alt hatte sie sich deswegen nicht gefühlt.
Ganz
selbstverständlich war sie im Sport von der Jugendklasse in die Erwachsenen-
und später Seniorenklasse gewechselt. Das Alter war nicht spürbar gewesen –
oder doch?
Hatte
ihr ehemals ein Sportwochenende keine Kraft gekostet, so hatte sie sich später
nach so einem Tag zwar glücklich, aber erschöpft gefühlt und am Montagmorgen
manchmal gedacht: „Ach, wenn sich jetzt noch ein Tag voller Nichtstun dem
Wochenende anschließen würde.“
Einmal
hatte sie sogar morgens in der Firma angerufen, um spontan um einen Urlaubstag
zu bitten.
Ein
Regenwochenende – wie schön war es gewesen, wenn dies sich angekündigt hatte.
Wenn die jungen Leute es voll Bedauern bejammerten, hatte sie geschmunzelt:
„Ein Holzkastensonntag! Wie schön.“ und hatte sich auf einen stillen
Spaziergang mit ihrem Hund durch regentropfende Wälder und spätere Lesestunden
in ihrem Sessel gefreut.
Hatte
sie kleine Wehwehchen vor einigen Jahren meist ignoriert, so war sie doch
aufmerksam geworden, als der Arzt ihr empfahl: „Passen sie auf sich auf. In
ihrem Alter gehen Krankheiten nicht immer von alleine weg. Sie können sich
manifestieren.“
Diesen
Rat hatte sie nicht immer beherzigt, denn alt war sie noch lange nicht.
Berührt
hatte es sie schon, als eine junge Kollegin am Schreibtisch ihr gegenüber ihren
Platz gefunden hatte. Deren Mutter war genauso alt wie sie gewesen, jedoch vor
vielen Jahren schon gestorben. Nach einiger Zeit hatten sie einander ins Herz
geschlossen und Ohren und Seelen füreinander geöffnet. Die Jüngere hatte ihr
geholfen, das neue Computerprogramm schneller zu begreifen und sie ihr im
Gegenzug über die erste Liebesenttäuschung hinweggeholfen. Da war sie fast
unbemerkt auf eine andere Alters-Ebene gerutscht.
„Das
hat mit dem Alter nichts zu tun. Wir sind Freundinnen“ hatte sie sich
versichert und es auch so gefühlt.
Als
die junge Frau die Arbeitsstelle wechselte und eine ebenso junge ihren Platz einnahm, da hatte sie
bemerkt, dass sie mit Achtung behandelt wurde. Genauso, wie ihre Eltern es ihr
beigebracht hatten: „Älteren begegnet man mit Achtung.“ Unangenehm war es ihr
nicht gewesen, ganz und gar nicht. Es war wohltuend gewesen, denn oftmals hatte
sie sich geärgert, wenn die Jüngeren in Diskussionen ihre Meinung mit den
Worten: „Ach Du….“ abgetan hatten, obwohl ihre Lebenserfahrung ihr meist recht
gab.
Alt
hatte sie sich nie gefühlt. Vielleicht lag das daran, dass sie nur jüngere
Freunde hatte. Der Umgang mit ihnen ließ das Alter kaum bemerkbar werden.
Ja,
es hatte sie getroffen, als eine Freundin ihr kurz vor dem Eintritt in den
Ruhestand in einer Mail schrieb: „Freu dich, dass du nun das Alter genießen,
dir einfach mehr Zeit für alles nehmen kannst. Genieße es, so lange du kannst.“
Als
sie ein Projekt geplant hatte, hatte sie geschrieben: „Du beweist damit, dass
es dir ein echtes Anliegen ist.“ Innerlich war sie verärgert gewesen: sie war
weder uralt, noch musste sie irgendjemand etwas beweisen.
Natürlich
hatte das Alter sie längst schon eingeholt: die High-Heels waren mit flachen
Schuhen ausgetauscht worden und eine Lesebrille hatte ihre Notwendigkeit
erwiesen.
Dass
ältere Frauen unsichtbar werden würden, das hatte sie lächelnd für eine nette
Übertreibung gehalten. Doch als der neue Geschäftsführer sie bei seinen
Besuchen in ihrem Büro hin und wieder übersah, hingegen den jungen Kolleginnen
zwei Schreibtische weiter überschwänglich einen guten Morgen wünschte, war sie
erstaunt.
Da
hatte sie aufgepasst und dieses Phänomen auch außerhalb des Büros bemerkt.
Sie
war gealtert. Sie hatte es fast gar nicht bemerkt.
Sie
hebt den Blick von dem Zapfhahn und schaut zum Eingang der Tankstelle, lässt
ihn weiterschweifen zur Zapfsäule nebenan. Dort betankt ein Mann sein Fahrzeug.
Er scheint in ihrem Alter zu sein. Er trägt ebenso wie sie eine Jeans, hat
genauso wie sie lässig eine Jacke über ein T-Shirt gezogen. Seine Haare stehen
ebenso frech vom Kopf ab, wie ihr Kurzhaarschnitt.
Er
schaut herüber. Er lächelt.
Wen
hat er gesehen? Wem lächelt er zu?
Sie
schaut sich um.
Die
anderen Zapfsäulen sind leer. Kein anderes Auto wird betankt. Nur er und sie
sind da.
Meint
er wohl sie?
Ja,
er meint sie! Er hat sie gesehen! Sie ist nicht unsichtbar!
Ihre
Wangen überzieht eine leichte Röte.
Sie
schaut zu ihm hin und lächelt zurück!
(c) Annette Gonserowski
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