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8. Juni 2024

Altern

 


 

 Nach dem Lesen des wunderbaren Buches "Altern" von Elke Heidenreich habe ich in meinem Buch "Immer schaut ein Mensch hervor" nachgelesen, was ich über das Altern geschrieben habe. Das Buch erschien in erweiterter Auflage 2020.

Manche Empfindungen, die Elke Heidenreich in Ihrem Buch schrieb, stimmen mit denen in meiner Erzählung überein.

Hier nun mein Kapitel meines Buches.

Altern

 

„Das ist nun der Ruhestand“ denkt sie und sieht versonnen auf den Zapfhahn der Tanksäule.

Gluckernd rinnt der Dieselkraftstoff in den Tank ihres Autos.

Noch vor wenigen Tagen saß sie um diese Zeit an ihrem Schreibtisch im Großraumbüro.

„Das war Leben! Aktion von morgens bis abends“, denkt sie.

Sie war immer auf den letzten Drücker ins Büro gestürmt, hatte vorher schon einen Spaziergang mit ihrer Hündin gemacht und die Fahrt ins Büro war oft an der Grenze der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gewesen. Im Herbst und Frühjahr war sie der aufgehenden Sonne entgegengefahren und auf dem Rückweg hatte der Schein der untergehenden Sonne die vor ihr liegenden Stunden vergoldet.

Oftmals hatte bereits bei ihrem Betreten des Büros das Telefon geklingelt, bevor sie ihren Mantel an der Garderobe aufgehängt hatte. Der  Computer war hochgefahren, während sie schon eine Notiz auf einen Zettel schrieb.

Und so war es weitergegangen. Der Terminkalender war voll gewesen und aus der Schublade hatte sie die zu erledigenden Unterlagen geholt. Kaum dass sie dazu gekommen war, sich einen Tee in der kleinen Küche am Ende des Flurs zu kochen. Und dennoch: diese kurze Zeit hatte gereicht, um mit Kolleginnen und Kollegen ein paar Neuigkeiten auszutauschen, zu lachen oder auch ernste Worte zu wechseln. Der Tag hatte voller Power begonnen und meist auch so geendet.

Sie hatte sich wach und lebendig und jung gefühlt, auch nach einem langen Arbeitstag.

Und nun musste sie sich im neuen Leben einrichten, die Stunden füllen, die leer und lang vor ihr lagen.

Wie oft hatte sie sich das gewünscht: einfach viel mehr Zeit für sich und all die Dinge zu haben, die sie verwirklichen wollte.

„Du wirst bestimmt keine Langeweile haben.“ Das hatte sie mehrfach in den letzten Wochen gehört und sie hatte stets zustimmend genickt.

Nein, Langeweile würde sich sicher nicht endgültig in ihrem Leben ausbreiten, dessen war sie sich sicher.

„Gönnen sie sich erst einmal die Ruhe“, hatte ihr Vorgesetzter gesagt und sie hatte ihn erstaunt angesehen.

„Mache ich den Eindruck, als ob ich die Ruhe nötig hätte?“

„Nun ja, ab einem gewissen Alter ist es doch einfach schön, wenn man all die Dinge mit ein wenig mehr Muße angehen kann. Vielleicht ein wenig länger zu schlafen, in Ruhe zu frühstücken und in den Tag zu gleiten.“

Da war es benannt worden: das Alter. War sie nun alt?

Sie war zum Schluss die Älteste im Büro gewesen, das stimmte. Es waren schon die Kinder ihrer früheren Kolleginnen gewesen, mit denen sie zusammenarbeitete. Aber war sie deswegen schon alt?

Sicher, nicht immer hatte sie über deren Späße lachen können und ihre Lautstärke hatte sie oftmals genervt.

Doch dann hatte sie sich daran erinnert, wie es war, als sie als junge Frau in diese Abteilung gekommen war und inmitten der alten Kollegen mit dem gleichaltrigen Schreibtischnachbarn gescherzt und gelacht hatte. Dann war oftmals der tadelnde Zuruf gekommen: „Ruhe! Sind wir hier denn in einem Zirkus?!“

So hatte sie niemals werden wollen und einen Hinweis auf Ruhe hinuntergeschluckt, selbst als sie immer mehr Ruhe benötigt hätte, um sich auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Ein Zeichen des Alterns?

Alter – wann ist es ihr erstmals begegnet?

Lächelnd denkt sie an eine Begebenheit.

Sie war  um die Dreißig gewesen und hatte stolz eine Rezension im Büro gezeigt, in der ein Kritiker geschrieben hatte: „Eine junge Frau, die vorbehaltslos ihre Seele strömen lässt.“ Da hatte der Praktikant laut prustend gelacht: „Hahaha, junge Frau!“

Aber alt hatte sie sich deswegen nicht gefühlt.

Ganz selbstverständlich war sie im Sport von der Jugendklasse in die Erwachsenen- und später Seniorenklasse gewechselt. Das Alter war nicht spürbar gewesen – oder doch?

Hatte ihr ehemals ein Sportwochenende keine Kraft gekostet, so hatte sie sich später nach so einem Tag zwar glücklich, aber erschöpft gefühlt und am Montagmorgen manchmal gedacht: „Ach, wenn sich jetzt noch ein Tag voller Nichtstun dem Wochenende anschließen würde.“

Einmal hatte sie sogar morgens in der Firma angerufen, um spontan um einen Urlaubstag zu bitten.

Ein Regenwochenende – wie schön war es gewesen, wenn dies sich angekündigt hatte. Wenn die jungen Leute es voll Bedauern bejammerten, hatte sie geschmunzelt: „Ein Holzkastensonntag! Wie schön.“ und hatte sich auf einen stillen Spaziergang mit ihrem Hund durch regentropfende Wälder und spätere Lesestunden in ihrem Sessel gefreut.

Hatte sie kleine Wehwehchen vor einigen Jahren meist ignoriert, so war sie doch aufmerksam geworden, als der Arzt ihr empfahl: „Passen sie auf sich auf. In ihrem Alter gehen Krankheiten nicht immer von alleine weg. Sie können sich manifestieren.“

Diesen Rat hatte sie nicht immer beherzigt, denn alt war sie noch lange nicht.

Berührt hatte es sie schon, als eine junge Kollegin am Schreibtisch ihr gegenüber ihren Platz gefunden hatte. Deren Mutter war genauso alt wie sie gewesen, jedoch vor vielen Jahren schon gestorben. Nach einiger Zeit hatten sie einander ins Herz geschlossen und Ohren und Seelen füreinander geöffnet. Die Jüngere hatte ihr geholfen, das neue Computerprogramm schneller zu begreifen und sie ihr im Gegenzug über die erste Liebesenttäuschung hinweggeholfen. Da war sie fast unbemerkt auf eine andere Alters-Ebene gerutscht.

„Das hat mit dem Alter nichts zu tun. Wir sind Freundinnen“ hatte sie sich versichert und es auch so gefühlt.

Als die junge Frau die Arbeitsstelle wechselte und eine ebenso  junge ihren Platz einnahm, da hatte sie bemerkt, dass sie mit Achtung behandelt wurde. Genauso, wie ihre Eltern es ihr beigebracht hatten: „Älteren begegnet man mit Achtung.“ Unangenehm war es ihr nicht gewesen, ganz und gar nicht. Es war wohltuend gewesen, denn oftmals hatte sie sich geärgert, wenn die Jüngeren in Diskussionen ihre Meinung mit den Worten: „Ach Du….“ abgetan hatten, obwohl ihre Lebenserfahrung ihr meist recht gab.

Alt hatte sie sich nie gefühlt. Vielleicht lag das daran, dass sie nur jüngere Freunde hatte. Der Umgang mit ihnen ließ das Alter kaum bemerkbar werden.

Ja, es hatte sie getroffen, als eine Freundin ihr kurz vor dem Eintritt in den Ruhestand in einer Mail schrieb: „Freu dich, dass du nun das Alter genießen, dir einfach mehr Zeit für alles nehmen kannst. Genieße es, so lange du kannst.“ 

Als sie ein Projekt geplant hatte, hatte sie geschrieben: „Du beweist damit, dass es dir ein echtes Anliegen ist.“ Innerlich war sie verärgert gewesen: sie war weder uralt, noch musste sie irgendjemand etwas beweisen.

Natürlich hatte das Alter sie längst schon eingeholt: die High-Heels waren mit flachen Schuhen ausgetauscht worden und eine Lesebrille hatte ihre Notwendigkeit erwiesen.

Dass ältere Frauen unsichtbar werden würden, das hatte sie lächelnd für eine nette Übertreibung gehalten. Doch als der neue Geschäftsführer sie bei seinen Besuchen in ihrem Büro hin und wieder übersah, hingegen den jungen Kolleginnen zwei Schreibtische weiter überschwänglich einen guten Morgen wünschte, war sie erstaunt.

Da hatte sie aufgepasst und dieses Phänomen auch außerhalb des Büros bemerkt.

Sie war gealtert. Sie hatte es fast gar nicht bemerkt.

Sie hebt den Blick von dem Zapfhahn und schaut zum Eingang der Tankstelle, lässt ihn weiterschweifen zur Zapfsäule nebenan. Dort betankt ein Mann sein Fahrzeug. Er scheint in ihrem Alter zu sein. Er trägt ebenso wie sie eine Jeans, hat genauso wie sie lässig eine Jacke über ein T-Shirt gezogen. Seine Haare stehen ebenso frech vom Kopf ab, wie ihr Kurzhaarschnitt.

Er schaut herüber. Er lächelt.

Wen hat er gesehen? Wem lächelt er zu?

Sie schaut sich um.

Die anderen Zapfsäulen sind leer. Kein anderes Auto wird betankt. Nur er und sie sind da.

Meint er wohl sie?

Ja, er meint sie! Er hat sie gesehen! Sie ist nicht unsichtbar!

Ihre Wangen überzieht eine leichte Röte.

Sie schaut zu ihm hin und lächelt zurück!

 

(c) Annette Gonserowski

 

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