Eigene Lyrik, Fotos und Bilder




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11. Dezember 2007

Weihnachtliche Szene IV




Sie sitzt am Tisch im Esszimmer. Vor ihr auf dem Tisch brennt am Adventskranz die zweite Kerze.
Durch die Terrassentür fällt das flache Licht der untergehenden Sonne. Am Vogelhäuschen auf der Terrasse picken letzte Vögel die Körner. Bald werden auch sie ihren Artgenossen folgen und den Nistplatz in der hohen Tuja aufsuchen. Dann wird es nicht mehr lange dauern, bis die Dunkelheit hereinfällt.
An diesem Tisch sitzt sie gern, schaut nach draussen, schreibt. „Hier ist meine musische Ecke“, sagt sie oft und glaubt ganz fest daran, dass an diesem Ort im Haus positive Strömungen sie erreichen. In ihrem Zimmer im Stockwerk darüber, hat sie genau an dieser Stelle ihren Schreibtisch stehen.
Heute fällt ihr Blick auf die kleine Lackschatulle, die nun im Kerzenschein glänzt. Sie denkt an den Samstag des zweiten Advent zurück, an dem sie sie kaufte.

Zu einem kleinen Weihnachtsmarkt haben verschiedene Vereine ihre Buden aufgebaut, in denen sie allerhand feilbieten: Glühwein, selbstgestrickte Strümpfe, Laubsägearbeiten aus Holz, Dekoratives aus Stroh und viele andere Dinge. Natürlich gibt es auch die Buden, von denen der Glühweinduft oder der der gerösteten Mandeln verführerisch den Besuchern in die Nase zieht.
Sie hat von ihrem Besuch beim Bäcker einen kleinen Abstecher gemacht und schlendert nun mit mäßigem Interesse an den Buden entlang. Am Ende des kleinen Weihnachtsmarktes hat ein Fremder seinen Stand aufgebaut. Neugierig schaut sie das Angebot an: östliche Sachen reihen sich auf der kleinen Theke. Babuschkas in verschiedenen Größen schauen ihr entgegen. Sie nimmt eine in die Hand und betrachtet sie von allen Seiten. 6 Kleine Figuren haben Platz im Innern der Puppe.
Als sie diese wieder auf den Tisch zurückstellt, fällt ihr Auge auf zwei kleine Lackschatullen, auf deren Deckel wunderbar filigrane Motive gemalt sind. Sie ist entzückt und schaut näher: die kleinere, nicht einmal 10 cm lang, trägt auf dem Deckel das Bildnis eines Violinenspielers, hoch zu Ross auf einem eleganten Schimmel. Er musiziert im Duo mit einem Gitarrenspieler, der vor dem Schimmel steht, über ihn beugen sich die Zweige eines Baumes.
Der Verkäufer, der nur gebrochen Deutsch spricht, nimmt die Dose auf und hält sie ihr entgegen: „Schauen“. Vorsichtig nimmt sie sie entgegen. Die Dose ist ein Traum. Die Motive sind mit einem feinen Pinsel farbenprächtig gemalt worden. Sie hält sie in den Lichterschein – sie erkennt deutlich, dass es keine Abziehbilder sind, die diese kleine Schatulle schmücken. Zarte, winzige Bodüren zieren die Seitenwände. Sie öffnet vorsichtig den kleinen Deckel und das kräftige Rot der Innenfarbe glänzt ihr entgegen.
Sie ist begeistert. „Wieviel kostet sie?“
Der Händler nennt einen Betrag, der ihr hoch erscheint. „Sie ist eine Rarität.“
„Das stimmt“, mischt sich ein weiterer Besucher ein, der sich als Sammler outet.
Sie schluckt: „Oh… das ist viel Geld.“ Sie stellt die Schatulle zurück, schlendert weiter und verlässt den Weihnachtsmarkt. Nicht verlässt sie der Gedanke an diese Schatulle. Sie erzählt davon ihrer Mutter, die seit einiger Zeit bettlägerig ist und von ihr gepflegt wird. Die Mutter hört aufmerksam zu.
„Bald ist Weihnachten. Du hast Dir ja schon ein Weihnachtsgeschenk von dem Geld gekauft, das ich Dir schenkte. Aber wie wäre es, wenn Du Dir von dem Rest diese Schatulle kaufen würdest? – Wo sie Dir doch so gut gefällt. Dann wird sie Dich immer an diesen Samstag im Advent erinnern, wenn ich einmal nicht mehr bei Dir bin. Und Du weißt: bald heißt es Abschied nehmen – ich werde nicht mehr lange bei Dir sein“.
Traurig schaut sie die Mutter an: „Ach Mutti“…
„Nun fahr schon los, und hol Dir diese kleine Kostbarkeit.“
Als sie auf dem kleinen Markt ankommt, hat starker Regen eingesetzt, nur sehr wenige Besucher stehen unter den tropfenden Budendächern. Der östliche Händler hat seinen Stand abgebaut und räumt Kiste um Kiste in seinen Bully. „Haben Sie noch die kleine Schatulle?“
„Ich schaue nach. Eine hab ich verkauft, eine ist noch da.“ Der Händler kramt in einer der Kisten und holt eine kleine Lackschatulle hervor. Es ist die richtige: der Gitarrenspieler und hoch zu Ross der Violinspieler. Pferde, Reiten, Gitarrenspielen – die drei Passionen ihres Lebens. Sie tauscht Geldschein mit Lackschatulle und trägt sie glücklich heim.
Die Mutter ist zufrieden mit der Wahl dieses Geschenkes: „Und weißt Du was,“ sagt sie: „Ich lege jetzt ganz viel Liebe in dieses Kästchen. Wenn ich nicht mehr bei Dir bin, dann kannst Du es öffnen und die Liebe strömt heraus.“
Da nimmt sie die Mutter zart in den Arm und hält sie ganz fest. „Du sollst doch bei mir bleiben.“
„Ja, ich weiß, Kind“, erwidert die Mutter und streicht mit ihren schon knochigen Fingern über die Wange der Tochter, über die Tränen laufen.

Die Mutter ist wenige Wochen später gestorben.
Nun sind schon viele Jahres übers Land gezogen und haben den Schmerz des Abschiedes mit sich genommen. Die kleine Schatulle ist geblieben und mit ihr die Erinnerung an diesen Tag im Advent. Immer, wenn sie den kleinen Deckel öffnet, strömt ihr die Liebe der Mutter entgegen und legt sich wärmend um ihr Herz.
(c) Annette Gonserowski

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