Eigene Lyrik, Fotos und Bilder




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28. Januar 2007

Ivan der Schreckliche

Er begegnete mir an einem Abend.

Ein leiser Windhauch strich durch meine Haare, als er über mir flog. Wenige Meter von mir entfernt landete er auf einem Zweig des hohen Lebensbaumes, der in der Nähe des gemauerten Pfeilers unserer überdachten Terrasse steht. Er drehte mir den Kopf zu, neigte ihn ein wenig zur Seite und beäugte mich aus seinen dunklen Knopfaugen. Aus seinem Schnabel ragten rechts und links lange Strohhalme hervor. Er schien mich zu kennen. Offensichtlich beschied er , dass ich keine Gefahr für ihn darstellte, denn im nächsten Augenblick hüpfte er durch die Zweige der Tuja und verschwand im dichten Grün. Wenig später raschelte es zwischen den Zweigen, sein dunkles Köpfchen schaute hervor und schon flog er in Richtung der Wiese davon.

Von nun an weckte mich sein Lied an jedem Morgen. Mit geschlossenen Augen lauschte ich in die Dunkelheit, liess mich von den Tönen des kleinen gefiederten Sängers aus den Träumen tragen, hinein in das Wachen.

Wenige Tage später bog ich vorsichtig die Zweige auseinander. Und wirklich: er hatte ein Nest gebaut in der Astgabel, ganz nah an dem dicken Stamm der schlanken Tuja. Es lag versteckt zwischen dichten Zweigen, geschützt vor Regen und Sturm. Ich fand eine lichte Stelle, durch die ich auf das Nest schauen konnte, ohne die Zweige berühren zu müssen. Nun schaute ich jeden Tag. Sein Lied hatte nicht nur mich betört, sondern eine scheue, braungefiederte Vogelfrau saß nun auf dem Nest und schaute mich abwägend an. Sie gewöhnte sich an mich. Manchmal verließ sie für einen Moment das Nest. Da konnte ich sehen, dass vier gesprenkelte Eier darin lagen.
Zwei Wochen später waren die Jungen geschlüpft. Kleine atmende Wesen, der Flaum noch kaum sichtbar, mehr Eidotter als Vogel, lagen im Nest. Emsig flogen nun Vateramsel und Mutteramsel auf Futtersuche. Mit Schnäbeln voller fetter Regenwürmer kehrten sie zurück, stopften sie in die weitaufgerissenen Schnäbelchen der Jungen. Die waren hungrig und sperrten die Schnäbel auf, kaum das sie den Flügelschlag der nahenden Eltern vernahmen.
Wenn ich abends kurz vor dem Schlafengehen mit dem Hund noch einmal an den Apfelbaum auf der Wiese ging, warf die Aussenlampe am Pfeiler ihren Schein durch die Zweige des Lebensbaumes. Meist saß Mutteramsel auf dem Nest, schaute mich unverwandt an.
Nun trug ich mit ihr die Sorge um die heranwachsende Brut. Voller Unruhe lauschte ich dem Schrei der Krähen, die nahe unseres Grundstückes ihr Nest in der hohen Krone des Kirschbaumes gebaut hatten. Das Elsternpaar, das auf unserem Grundstück Nahrung suchte, hielt ich mit Argusaugen im Blick. Wenn sie in die Nähe der Tuja hüpften, schritt ich ein, trat hervor, so dass sie erschreckt vondannen flogen. In einen großen Blumentopf stellte ich eine Vogelscheuche, die die stolz den alten Hut des Vaters trug, stellte den Topf in die Nähe des Herbergsbaums. Nach wenigen Tagen hatten sich alle Vögel an die Scheuche gewöhnt, landeten zwitschern auf ihrem Haupt. Nun wickelte ich Maschendraht um den Baum. Das Drosselpaar beobachtete dies genau, flug nun ein und aus durch den Spalt, der zur Terrasse hin geöffnet war. Die Vöglein wurden flügge, verließen das Nest bei meiner Abwesenheit.

Kurze Zeit später lagen wieder Eier in dem Nest. Mutteramsel nahm ihren Platz ein.
An einem Abend, als ich im Lichtschein der Außenlampe Mutteramsel in die Augen schaute, schien es mir, als ob sie beunruhigt war. Ich wünschte ihr eine gute Nacht und ging mit dem Hund in das Haus.

Als ich am anderen Morgen an die Tuja trat, war das Nest leer, braune Federn lagen um den Baum herum gestreut. Ich verfluchte die Katzen des Nachbarn, die in scheinbar schläfriger Gleichgültigkeit in der Sonne lagen. Sie hatten ganze Arbeit geleistet. Mutteramsel war tot.
Tagelang saß der Amselmann auf den Zweigen des Apfelbaums. Ich trauerte mit ihm.
Wenn ich zu ihm sprach, legte er den Kopf auf die Seite und lauschte.

Nun ist Winter geworden.

Der Futterplatz der Vögel wird täglich reichlich gefüllt. Sonnenblumenkerne, Fettfutter, Rosinen, Äpfel werden gerne angenommen. Ein Dompfaffpärchen, Rotkehlchen, Blau- und Haubenmeisen, Spatzen und Amseln picken munter die Kerne, die im Futterhäuschen und auch darunter auf dem Boden verteilt wurden. Es ist ein Mit- und Gegeneinander, Rangordnungsrangeleiern werden ausgetragen.

Ein Vogel fällt auf. Er hat die Herrschaft übernommen. Unermüdlich scheucht er die Vögel fort, die sich von den Futterstellen am Boden laben möchten. Er hüpft nach rechts und nach links, hüpft um den großen Blumentopf herum, in dem die Vogelscheuche, nun schon in die Jahre gekommen, ihre Mütze schief herunterhängen läßt. Die Vögel fliegen erschreckt auf, wenn er sich ihnen nähert, um sofort wieder angefllattert zu kommen, wenn er ihnen den Rücken zudreht. Er hat viel zu tun, kaum dass er selbst zum Picken kommt.

Ich habe ihn wiedererkannt. Ein kleiner weißer Fleck auf seinem schwarzen Gefieder fällt auf. Es ist mein Amselmännchen, dass den Futterplatz in der Nähe der Tuja verteidigt. Er hat hier Hausrecht.

Lächelnd schaue ich ihm zu und nenne ihn liebevoll Ivan den Schrecklichen. Er fliegt nicht fort, wenn ich das Futterhäuschen fülle, legt den Kopf lauschend schräg, wenn ich ihn beim Namen nenne.

Wir sind uns vertraut.

(c) Annette Gonserowski

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