Eigene Lyrik, Fotos und Bilder
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27. August 2006
Ulrich
Wir in den Armen unserer Großmütter
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, lieber Zwilling!
Ich kannte ihn schon, bevor ihn jemals ein Mensch je gesehen hatte. Ich war ihm so nah, dass ich genau wußte, wie sein Herzschlag klang. Ich hätte ihn aus Millionen anderer Herzschläge bestimmen können: er war leise und doch so laut, dass ich ihn durch die Wand hören konnte, die uns trennte. Manchmal war ich ganz still und lauschte dem Herzschlag und war glücklich.
Manchmal jedoch war ich sehr wild, klopfte mit beiden Fäusten ungestüm gegen die Wand. Dann bog sich diese und er, der ganz nah dahinter war, hatte keine Chance auszuweichen. Er spürte diese Fausthiebe und ich wünsche mir, dass sie ihn nie trafen.
Auch er lauschte meinem Herzschlag, der ebenso zu ihm drang, verhielt sich ganz still. Vielleicht war auch er glücklich. Manchmal spürte auch ich seine kleinen Fäuste gegen die Wand boxen, dann war ich glücklich.
Als die Frühlingsstürme über das Land zogen, die Blumen im Bauerngärtchen des Elternhauses vorwitzig aus der Erde sprießten, wurde es eng in unseren Räumen. Wir beanspruchten mehr Raum. Von jeder Seite versuchten wir die Wand beiseite zu schieben. Ich drückte mit meinem Po fest dagegen und spürte, dass auch er auf der anderen Seite mit voller Kraft dagegenstemmte. Dies Unterfangen war aussichtlos, so richteten wir uns ein in der ständig größer werdenden Enge, lauschten unserem Herzschlag und waren froh, so nah beieinander zu sein.
Wir verließen den Mutterleib mit unserer Geburt. Er ging eine Viertelstunde vor mir, bahnte sich den Weg in die unbekannte Welt und schrie aus Leibeskräften, als er plötzlich allein in dieser unendlichen Weite war, die kalt nach seinem kleinen Körper griff.
War er in unserem engen Raum riesengroß, so mußte er voll Entsetzen feststellen, dass er sehr klein und verletzlich war.
Ich spürte sein Gehen voller Entsetzen. Mir wurde der Platz weit in meiner Bleibe, die Stille ohne seinen Herzschlag unerträglich. Der Herzschlag der Mutter, den wir gemeinsam vernommen hatten und der nun ganz anders klang, ohne ihn, tröstete mich nicht. Ich hatte keine Bleibe mehr. So machte ich mich auf, folgte ihm auf diesem Weg, den er mir bereitet hatte.
Winzlinge waren wir beide, die behutsam die ersten Wochen in dieser fremden Welt in einem Brutkasten gebettet wurden. Ich gedieh prächtig, er war schwach und sein Herzchen drohte oftmals auszusetzen.
Ich durfte das Krankenhaus einige Zeit vor ihm verlassen, zog ohne ihn in das Elternhaus ein. Ich glaube, ich war glücklich, als er einige Wochen später folgte. Wir waren wieder vereint, schliefen nebeneinander in einem Bettchen, lagen in einem Kinderwagen, mit dem man uns durch die schon herbstliche Welt fuhr. Die Blätter der dicken Buche, unter die man uns geschoben hatte, raschelten schon spröde und wenige Wochen später fielen dicke Schneeflocken zur Erde, bedeckten alles mit einer weißen Decke. Da lauschten wir gemeinsam dem Prasseln des Holzes im Herdfeuer, planschten fröhlich in der Badewanne, die man auf den breiten Küchentisch gestellt hatte.
Ich fand meinen bevorzugten Platz auf dem Arm der Mutter, während er auf dem Arm der Großmutter mit großen Augen still und ernst in die Welt schaute.
Weit voneinander entfernt waren wir nie.
Man steckte man uns in ähnliche Kleidung, unterstrich das, was wir uns niemals beweisen mußten: dass wir Zwillinge sind.
Ich watschelte mit meinen stämmigen Beinchen fröhlich in die kleine Welt um unserem Elternhaus, er folgte mit ernstem Blick hinterdrein. Beim Nahen von Fremden verbarg er sich hinter mir, während ich grimmig schauend die Lage sondierte.
Als man uns Ledergeschirre anlegte, damit wir nicht zum Teich auf der Wiese vor dem Haus gehen konnten, war es einerlei: wir hatten uns. Mehr brauchten wir nicht.
Getrennt wurden wir für einige Stunden des Tages, als ich mich kreischend weigerte, den Kindergarten zu besuchen. Da ging er tapfer allein an der Hand der Kindergärtnerin diesen weiten Weg. Einige Wochen später ging ich mit ihm.
In der Schule steckten wir unsere Nasen gemeinsam in ein Schulbuch, lernten gemeinsam zu Hause am Küchentisch.
In unserer freien Zeit trennten sich nun unsere Wege. Er fand einen Freund in der Nachbarschaft, mit dem er viele Stunden verrbachte. Auch ich fand eine Freundin, die wenige Häuser entfernt wohnte. Ich spielte mit ihr Jungenspiele, denn Puppen waren mir verhaßt.
Zum ersten Zeugnis bekam Ulrich von den Großeltern einen wundervollen, grünlackierten Roller geschenkt. Über den Sack voller bunter Bälle, den ich bekam, war ich enttäuscht. Aber er teilte dieses begehrte Gefährt mit mir, wie wir alles teilten, was wir besaßen. Das größte, was wie miteinander teilten, waren unser gegenseitiges Vertrauen, dass uns auch die Gedanken aussprechen ließ, die wir sorgfältig vor anderen verbargen.
Als ich viele Jahre später eine Verlobung löste, vertraute ich mich ihm an. Wir waren mit seinem Auto zu einem Schloß gefahren, saßen auf der dicken Schloßmauer in der Sonne und berieten uns. Es war die Zeit, als so ein Ereignis noch eine Schande bedeutete.
Dass er mir den Rücken stärkte, ließ die Offenbarung gegenüber den Eltern leichter werden.
Als er heiratete, war es eine Freundin, als sie starb und er fortzog, fühlte ich mich verlassen, obwohl ich verheiratet war.. Ich bin sicher, dass er ebenso oft an mich dachte, wie ich an ihn.
Irgendwann kam er zurück, bezog das Elternhaus, nun wohnen wir wieder nah beeinander.
Wir können uns sehen, wann immer uns brauchen. Wir sind einander nah, auch wenn unsere Haustüren verschiedene sind. Wir teilen nicht viele große Worte miteinander, aber wir wissen umeinander, freuen uns, wenn einer von uns glücklich ist, sind traurig, wenn wir die Traurigkeit des anderen spüren. Oft gehen wir nebeneinander über das Feld, das die Ursprünglichkeit seit unserer Kindheit bewahrt hat. Dieses Feld, das Synonym für unsere gemeinsamen Wurzeln ist. Dann reden wir miteinander und sind sicher, dass wir einander verstehen. Immer.
(c) Annette Gonserowski
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