geschrieben im 2016 am Mittelmeer
Wieder bin ich am Meer, schaue auf das Wasser. Heute
kräuselt es sich im sanften Wind. Die Bläue des Himmels spiegelt sich auf den
Wellen.
Ich atme tief durch. Die Frische der Luft, getränkt
vom Meersalz und Spuren der Algen, strömt in meine Lungen. Mein Herz scheint
weit zu werden, möchte sich aufschwingen in den hohen Himmel, oder bis ans Ende
des Meeres, wo Geschichten von tausend und einer Nacht rankten, erzählten von
Sehnsucht und Liebe, von Düften wie Opium und Weihrauch und denen der fremden Gewächse. Dorthin träumte ich
mich einst. Schrieb Zeile um Zeile.
Heute erfüllen Kriege die Länder am anderen Ende des
Ufers. Morden, Heimatlosigkeit und Leid schreiben neue Geschichten.
Kann ich heute noch davon schreiben, dass das Meer auch
heute noch die Bläue des Himmels trägt, der Ruf der Möwen wie Lachen den Wind
übertönt, kleine Vögel emsig am Saum des Meeres ihr Futter suchen, geschickt
jeder Welle ausweichen. Heute wie einst bauen Kinder ihre Burgen, legen
Künstler ihre flüchtige Spur in den Sand. Einzelne Blüten der Bourganvilla und
des Jasmins treiben auch heute verweht an dem Strand.
Und doch: das Meer hat seine Unschuld verloren. Das
Leben hat seine Behaglichkeit verloren, seine scheinbare Idylle, in die man
sich träumen, schreibend verlieren konnte.
Der Realität kann man nicht ausweichen, den Gedanken
nicht entkommen.
Dennoch: ein lieber Dichterfreund
schrieb einmal ein wunderbares Gedicht, das mindestens zwanzig Jahre unter
meiner Schreibtischunterlage im Büro lag, das mich im Stress entspannte, wenn mein Blick darauf fiel. Schon das ein Grund zum Schreiben und Veröffentlichen von Gedichten.
Ich denke über mein Schreiben, über das
Gedichteschreiben im Alter nach.
Seit nahezu vierzig Jahren schreibe ich Gedichte.
Meist waren es persönliche Gedichte, oft umschrieben Metaphern der Natur
Sehnsucht und Liebe, Trauer und Tränen. Vierzig Frühlinge, vierzig Sommer,
Herbste und Winter spiegeln sich in ihnen. Wie viele Abschiede, wie viele Begegnungen, wie viel Sehnsucht und Hoffnung
finden sich in den Zeilen.
Kann ich heute noch von Liebe und Sehnsucht schreiben,
von Hoffnung, vom hüpfenden Herzen und Freude, die aus den Augen springt?
Ja, es gibt sie auch heute noch. Sie wird ja nicht
abgelegt, wie ein alter Mantel.
Bei Lesungen spüre ich, wie unangenehm es mir ist,
wenn ich von Liebe lese.
Liebe - wird sie einem Menschen im reifen Alter
zugestanden? Möchte ich noch über diese Gefühle schreiben, sie dem Leser und
Hörer anvertrauen?
Möchte ich über Kriege schreiben, über das Köpfen
Unschuldiger, möchte ich die Einbrüche auch in mein persönliches Leben
thematisieren, über die Unsicherheit, die nicht nur das Alter mit sich bringt?
Sind da Zeilen eines Gedichtes angebracht, oder sollte
ich mich der langzeiligen Prosa zuwenden, die viel mehr Raum bietet für einen
Aufschrei?
Möchte ich darüber schreiben?
Immer wieder schrieb ich auch Gedichte über Missstände,
über Kriege; Umweltbedrohung, oder einsame Menschen in Seniorenheimen, schrieb
über das Vergessen.
Als ich Anfang vergangenen Jahres in einer Lesung Gedichte über Krieg
und Asyl vortrug, sagte nach der Lesung Jemand zu mir: “Du hast es aber heute mit
dem Krieg.”
Es war mir ein Anliegen, diese Gedichte zu schreiben,
auch hier am Mittelmeer, und sie zu lesen in der Stunde zum Mittag hin im
Winter des behüteten Sauerlands.
Eine Dichterkollegin sagte einmal: “Nach den
Wechseljahren sollte man keine Gedichte mehr schreiben,” Es entzieht sich
meiner Kenntnis, ob sie das geschlechterübergreifend meinte. Sie jedenfalls
wandte sich vermehrt der bildenden Kunst zu, schuf Skulpturen mit
beeindruckender, oft bedrückender Ausstrahlung,
Und doch: wenn ich die Gedichte meines nahen
Dichterfreundes Christophe Bossu lese, der mit seinen Haiku Kleinodien voller
Gefühle und zarten Bildern schreibt, atme ich auf, lasse mich in den
Morgennebel tragen oder forttragen mit dem Schrei der ziehenden Vögel. Sie haben
heute noch ebenso ihre Gültigkeit wie in meinen alten Gedichten, in denen ich
diese Stimmungen beschrieb.
Lese ich die Gedichte von meinem Freund Michael
Starke, kann ich nicht anders, als bewundernd diese Zeilen in mir aufzunehmen.
Alltägliche Themen voller Gefühle und Nähe fasste er in unnachahmlicher Weise
in seine wunderbaren Gedichte. Er, ebenso alt wie ich, fand auch Worte für das
Leben außerhalb der Kriege, Worte über das Leben vor seinem Fenster, seiner
Straße, über seine Gefühle.
Oder Gerhard Rombach, Dichterfreund und Dichterpartner
seit vielen Jahren, mit dem ich Dialoggedichte schrieb. Er schreibt weiterhin,
beleuchtet Missstände, schreibt über Kriege und Liebe, über die ganze
Bandbreite des Lebens.
Was soll ich schreiben?
Über das, was in mir ist. Und
all das ist in mir: das Leben mit all seinen Facetten, mit all seinem Reichtum,
seiner Bedrückung, Bedrohung, seiner Freude und Freiheit. Die Freiheit ist in
mir, auch wenn sie ungreifbare Grenzen durch das Alter aufgezeigt bekommt. Ich
möchte dennoch schreiben, auch über die Freude,
Ich schrieb vor vielen Jahren einmal ein Gedicht und
die Redakteurin eines Radiosenders setzte es an den Anfang unseres
Radiointerviews:
Alles
schon geschrieben,
alles schon gesagt,
alles,
was wir lieben,
wurde hinterfragt.
Was ist davon geblieben?:
alles
schon gesagt.
Sie fragte mich damals, warum ich dennoch weiter schreibe,
wenn ich doch alle schon geschrieben hätte. Ich erwiderte ihr, dass ich mit meinen
Gedichten, die damals überwiegend die Natur als Metapher beschrieben,
aufrütteln und sensibilisieren wollte, für die Schönheit und Gefährdung der
Natur und des Lebens.
Heute würde ich sagen: es ist in mir und möchte
geschrieben werden.
Und so werde ich wohl
weiterhin schreiben.
(c) Annette Gonserowski