Eigene Lyrik, Fotos und Bilder




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15. Oktober 2006

Zum 100. Geburtstag meines Vaters


geliebter Papa (t 29.09.1991)

An dem Weidenzaun am Ende der Pferdekoppel stand Papa des abends oft, den Ellenbogen auf den krummen Eichenpfosten gestützt - ein schon sehr alter Mann.
In den letzten Jahren war er kleiner geworden, doch über sein Gesicht huschte noch hin und wieder dieses verschmitzte Lächeln seiner Kindheit und sein schneeweißes Haar war füllig, wie das eines jungen Mannes.
Von diesem Platz blickte er jeden Abend ins Tal, das sich im Laufe der Jahrzehnte wenig verändert hatte. Noch immer schlängelte sich der Bach durch die Auen, vor dem Bauernhof etwas höher am Hang standen seit Urzeiten die mächtigen Buchen und in dem Wald weiter oben hatte er schon als Kind mit seinem Vater Reisig unter den weit ausladenden Wipfeln der Bäume gesammelt.
Oft gesellte ich mich zu diesem ruhigen Menschen, schaute gemeinsam mit ihm in die Abendstille, genoss die Gelassenheit und den Frieden des Augenblicks. Ich schaute auf seine Hand, die die Falten des Alters trug, in sein noch rotwangiges Gesicht und in diese beruhigenden Augen, die die Weisheit des Lebens erkannten.
Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart, liebte diese schweigsame Zeit gemeinsam mit ihm.
Im Winter, wenn der Sturm vom Tal kommend um unser Haus fegte, hohe Schneewehen den Weg versperrten und die Dunkelheit früh hereinbrach, wartete ich auf das allabendliche Knarren der Pferdestalltür, es kündigte mir sein Kommen an, denn er füttere die Pferde, die ihre Boxen im Untergeschoss unseres Hauses hatten, stets zu gleichen Zeit. Meist stand er am Trog der Stute, fütterte ihr Hand um Hand den Hafer, kraulte ihr liebevoll den Schopf über der breiten Stirn, flüsterte ihr heimliche Worte ins Ohr. Er liebte diese Sute von ganzem Herzen, sie war die Begleiterin seines späten Alters. Er führte sie zur Weide, stand am Gatter, beobachtete ihr genüssliches Grasen, brachte sie in den Stall zurück, wenn sich dunkle Wolken am Himmel sammelten und dicke Tropfen zur Erde regneten. Kaum lugte jedoch die Sonne wieder zwischen den Wolken hervor, führte er die Stute wieder zur Weide, das Fohlen des Jahres sprang übermütig voran.
Er hütete die Pferde wie seinen Augapfel.
Manchmal unternahm er mit ihnen kleine Spaziergänge, zeigte ihnen die nähere Umgebung, freute sich an der Bewunderung der Spaziergänger. Die Pferde wurden sein Lebensinhalt.
Er ordnete den Stall, stapelte den Mist auf einen Haufen am Ende der Koppel, in einer geordneten Form. Er war stolz, wenn im Frühjahr und Herbst die Kleingärtner der Nachbarschaft kamen, um in ihren Schubkarren die für sie wertvolle Mistfracht zu holen.
Ich gesellte mich gern zu Papa, wenn er abends im Stall die Pferde fütterte. Die große Neonröhre war ausgeschaltet, nur ein kleines Notlicht hüllte den Stall in eine heimelige Atmosphäre. Ich lehnte mich an das Gitter der Box und schaute ihm zu, lauschte den leisen Worten dieses gütigen, alten Mannes, dessen Züge mir vertraut waren, den ich von ganzem Herzen liebte, dem ich nicht nur in diesen Momenten nah war.
Er erzählte mir in diesen stillen Stunden zwischen Tag und Nacht von früheren Zeiten. Aber auch Dinge, die ihn am Tag beschäftigt, erfreut oder beunruhigt hatten. Auch ich, die ich meist verschlossen war, löste mich in dieser trauten Zweisamkeit, öffnete ihm mein Herz. Wir beide genossen diese Stunden.
Verließ das Fohlen, wenn es ein oder zwei Jahre alt war, den Stall, um bei einem großen Aufzüchter artgerecht aufgezogen zu werden und um einem neuen Fohlen Raum zu bieten, so brach es ihm fast das Herz. Natürlich begleitete er das Fohlen mit uns zu seiner neuen Lebensstätte. Verstohlen wischte er sich die Tränen aus seinen altersschwachen Augen. Er nahm auch weiterhin an dem Leben seiner Pferdekinder teil, besuchte Turniere, an denen sie teilnahmen und freute sich über die Erfolge, die sie erzielten.
Einmal äußerte er den Wunsch, ein Fohlen zu besuchen, das, nunmehr fünfjährig, in einem Nachbarort seine Heimat bei guten Freunden gefunden hatte. Liebevoll streichelte er den Kopf des Pferdes, das erkennend wieherte, als er den Stall betrat.
Gerührt betrachtete ich die stille Zwiesprache zwischen Mensch und Tier, hielt mich im Hintergrund, um sie nicht zu stören.
Es war das letzte Mal, dass er das Tier sah und heute düngt es mich wie ein bewusstes Abschiednehmen.
Nimmt man bewusst Abschied von Menschen, Tieren und von Dingen, die man liebt? Oder geschieht das unbewusst? Weiß man um sein Ende?
Im letzten Jahr seines Lebens hatte sich eine unheilbare Krankheit seines Körpers bemächtigt, die ihn belastete, ihm Schmerzen und Einschränkungen brachte. Längst hatte ich stillschweigend seine täglichen Arbeiten im Stall und auf der Weide übernommen. Meist gesellte er sich zu mir, stand mir mit seinem Rat zur Seite.
Seine Augen hatten ihre Sehkraft verloren, er war fast gänzlich erblindet, konnte Dinge nur schemenhaft wahrnehmen. Er bewegte sich nur noch in seiner vertrauten Umgebung.
Oft hatte ich das Bedürfnis, ihn schützen zu wollen, vor den Unbillen des Alters, die mir mit ihrer Grausamkeit bewusst wurden.
Aber auch die Sanftheit und Gelassenheit des Alters wurde mir tröstlich bewusst, die alle Hektik und Wunden der Jugend hinter sich ließ.
So wie im Winter die Ruhe in der Natur einkehrt, nach den Stürmen des Herbstes, wenn Schnee die raue, harte Erde liebevoll umhüllt, so bereiten die nachlassenden Kräfte des Alters den Menschen auf seine letzte Ruhe vor.
Eines Morgens im späten August fuhr ich Papa in das Krankenhaus der Kreisstadt, wo man durch einen kleinen Eingriff seine Krankheit erträglich machen wollte.
Ich fuhr mit ihm über eine landschaftlich reizvolle Nebenstrecke, um ihm eine Freude zu bereiten. Der Anstieg führte durch Wiesen, auf denen die Kühe im Licht der aufgehenden Sonne friedlich grasten, während andere noch nachttrunken ihr Fellchen in den ersten Sonnenstrahlen wärmten. Auf den Sträuchern am Wiesenrand lagen die Spinnweben des Altweibersommers.
Auf den langen Drähten der Überlandleitung sammelten sich an diesem Morgen die ersten Zugvögel, deren beschwerliche Reise in die wärmeren Gefilde bevorstand.
Mir wurde wehmütig und in einer Kammer meines Herzen streifte mich der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn dies der letzte Weg meines geliebten Vaters wäre, wenn es ein Weg ohne Wiederkehr sein könnte. Entsetzt verwarf ich ihn schnell wieder.
Wenig später führte uns unser Weg durch dichten Wald, dessen Fichten die Dunkelheit der Nacht bewahrt hatten. Ein Reh kreuzte unseren Weg, sprang erschreckt davon - kurz nur konnte ich einen Blick seiner Augen erhaschen.
Papas Krankheit verbesserte sich nicht während dieses Krankenhausaufenthaltes.
Bei meinem letzten Besuch an seinem Krankenbett, vor Antritt eines Kurzurlaubes, fand ich einen unruhigen, in Schmerzen stehenden, hilflosen alten Mann vor, der kaum meinen Worten Gehör schenkte. Ihn beschäftigte nur das "Teufelszeugs in dem Tropf", das er verantwortlich für seinen Zustand betrachtete. Dieser hatte sich verschlechtert, doch sein Geist war hell und klar wie immer. Nach Ansicht der Ärzte bestand keine akute Lebensbedrohung, so drängte er uns, die geplante Reise in die Südheide mit unseren Pferden anzutreten.
Der Abschied fiel mir sehr schwer. Liebevoll schloss ich ihn in den Arm, fühlte seinen nunmehr knochigen Körper, öffnete nach Verlassen des Zimmers noch einmal die Tür, um ihm noch ein Lebewohl zuzuwinken, sein Bild in meinem Herzen aufzunehmen. In einer Woche würden wir uns wieder sehen.
Am nächsten Morgen hatten wir das Auto bereits gepackt, brauchten nur noch im Reitstall die Pferde abzuholen. Als das Telefon klingelte, glaubte ich, dass mein Zwilling mir einen guten Morgen wünschen wollte, wunderte mich über den Anruf in der frühen Stunde.
Es war nicht Ulrich, es war ein Mitarbeiter des Krankenhauses, der uns telefonisch die Mitteilung machte, dass Papa gestorben war. Sein Herz hatte beim Rasieren im Bad einfach aufgehört zu schlagen.
Ich sah ihn wieder, als ich an seinem geöffneten Sarg von ihm Abschied nahm, in dem er wie schlafend lag, nur die weißen Haare hatten sich im Tode mit schwarzen Strähnen durchzogen.

Zum letzten Mal sah ich sein geliebtes Antlitz, das mir in meinem ganzen Leben immer freundlich begegnete, das in Liebe zu mir sprach. Ich verlor mit ihm den Menschen, der mich am bedingungslosesten liebte, dem mein Wesen nahe ist und den ich noch heute schmerzlich vermisse.

***

Vorbei

Zogst mit
dem letzten Vogelschwarm.
Kein Halten mehr!
Dein Duft,
ihr Schrei
verweht im Wind.
Vorbei - vorbei.

Such Spuren
nun im Abendrot.
Such dein Gesicht.
Nur einen Hauch!
Nur einen Ruf
im Dämmern noch!
Vielleicht - vielleicht.

Unterm letzten Blatt
am kahlen Zweig:
die Feder dort!
Ein Atemzug?
Ein Flügelschlag?
Wolken treibt
der Wind, der Wind.

(c) Annette Gonserowski

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