Eigene Lyrik, Fotos und Bilder
Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.
26. April 2006
Das Erwachen der Scham
Flirrend stand die Luft über den wenigen Häusern des bäuerlichen Gehöftes.Von den Wiesen kam das träge Muhen der Kühe, die auf den umliegenden Weiden müde und widerkäuend in der Sonne dösten. Das Pferd senkte im Halbschlaf seinen langen Kopf in den Schatten des alten Apfelbaumes, wedelte hin und wieder mit seinem Schweif lässig die lästigen Fliegen fort.
Die Wege zwischen den Häusern waren staubig. Die Erde zeigte Risse nach dieser langen Trockenheit.
Die Blumen in den Bauerngärten blühten üppig in diesem Jahr: Gladiolen ragten in die gleißende Sonne, Dahlien in den vielfältigsten Farben und der blaue Rittersporn. Wicken rankten an der verwitterten Wand der alten Holzscheune. Am Bogen, der das Gartentor überrundete, dufteten die Rosen des alten Rosenstocks, den schon die Großmutter gepflanzt hatte.
Die Frauen saßen vor der Haustür, an diesem Nachmittag, hatten das Flickzeug mit nach draussen genommen. Eine pulte die ersten jungen Erbsen aus den noch zarten Schoten.
Auch die Frauen waren träge in der Hitze des frühen Nachmittags, wechselten einzelne Worte. Was gab es schon zu erzählen, in dieser Einsamkeit, in der höchstens der Fahrer des Milchwagens Neuigkeiten von den anderen Höfen brachte.
Heute war Marie unter ihnen, die oft genug Gegenstand ihrer Unterhaltung war.
Marie wohnte im einzigen Mietshaus. Hoch unter dem Dach hatte sie zwei kleine Zimmer behaglich eingerichtet.
Marie war anders.
Marie mied man.
Sie putze samstags die Wohnung und das Treppenhaus, kippte erst dann das schmutzige Wischwasser ins Blumenbeet, wenn die anständigen Familien beim Nachmittagskaffee saßen.
Sie entehrte das Wochenende.
Sie arbeitete in der Woche in der Firma am Stadtrand, engratete Teile aus Bakelit.
Sie arbeitete wie ein Mann, trug ebensolche Hosen wie die Männer, aus blauem Drill.
Ihr Mann war verschollen im Krieg. Sie lebte allein.
Besonders Klara betrachtete Marie verstohlen.
Klara wohnte mit ihrem Mann in der Wohnung unter Marie, hörte in manchen Nächten den schweren Schritt eines Mannes, der unerkannt die Treppe hinaufstieg.
Vor einem Jahr war es Willi gewesen, Klaras eigener Mann, der die Nächte, in denen er nicht schlafen konnte, im Gespräch mit Marie verbracht hatte.Willi war später mehrere Monate lang zur Marie gezogen, während Klara sich eine Etage tiefer, die Augen ausweinte.
Aber er war zurückgekehrt. Klara konnte den Kopf in den Nacken werfen.
Die Kinder, noch im Vorschulalter, spielten unweit entfernt. Die Mädchen trugen luftige Baumwollkleidchen, die stämmigen Kinderbeine waren braungebrannt. Die kurzen Lederhosen der Jungens glänzten vor Dreck. Ihnen machte die schwüle Sommerhitze nichts aus. Sie tollten ums Haus, überschrieen sich in ihrem Übermut. Laut hallte ihr Lachen zu den Frauen.
Auch Klaras Enkel war dabei. Klara hatte den Kindern eine lange Liegewanne aus Aluminium vor das Haus gestellt. In dieser spülte sie sonst an jedem zweiten Dienstag die Wäsche und an jedem Wochenende stellte sie sie in die Wohnküche, befüllte sie mit Wasser. Dann badeten Willi und sie nacheinander darin.
Heute tronte Heinzchen, der Enkel, in dieser Wanne. Voller Wonne patschte er mit seinen kleinen Händen in das Wasser, dass es nur so spritzte und die rundherum spielenden Kinder naß wurden.
War das ein Spaß in der sengenden Hitze.
Klara holte auch die Puppe heraus, mit der sie als Kind gespielt hatte. Es war ihre einzige gewesen und somit ihr ganzer Kindheitsstolz, weil diese einen Kopf aus echtem Porzellan hatte.
Anna war die Tochter von Klaras ältestem Bruder. Anna spielte selten mit Puppen und Thomas, ihre einzige Puppe, saß meist verlassen in einer Ecke ihres Kinderbettes. Anna glich ihrem Vater und hätte so gern ausgesehen, wie ihre Mutter, die aus dem Ruhrgebiet stammte und fast wie Schneewittchen aussah, mit ihrem dunklen Haar.
Heute jedoch hielt Anna die Puppe im Arm.
Anna war vier Jahre alt, Jürgen war fünf. Sie trabten an jedem Tag gemeinsam in den Kindergarten und hatten sich lieb. Sie würden später heiraten. Das hatten sie vor wenigen Tagen beschlossen. Und darum spielten sie nun Familie. Anna war die Mutter, Jürgen der Vater, Heinzchen ein Kind, die Puppe das andere.
Die Frauen lächelten. Das war ein braves Spiel. Da war die Ehe noch Spiel und voller Unschuld.
Anna hatte vor Eifer gerötete Wangen. Ihre blonden Locken kringelten sich auf der heißen Stirn. Anna war es heiß. Das nasse Kleidchen klebte an ihrem Körper. Jürgen hatte schon längst seine Hose ausgezogen und sprang splitternackt zu Heinzchen in die Wanne. Darin war Platz für mindestens drei. Auch noch für Anna und auch für die Puppe.
Anna streifte das Kleid ab. War ganz nackt. Das war nichts Schlimmes für Anna. Sie war immer nackt, wenn sie mit ihrem Bruder in die Wanne gesteckt wurde.
Anna schämte sich nicht. Anna löste die Schnalle der roten Sandalen, in denen ihre nackten Beine steckten.
"Pfuii!!!!!!! Anna! Das Du Dich nicht schämst! Nackt!!!!! Pfuii. Du verkommenes Miststück. Wie sollte es auch anders sein, bei Deiner Mutter, der Kohlenpötterin. Das sage ich Deinem Vater!"
Laut hallte Maries Schrei durch die stickige Luft. Anna erschrak, zog ihr Bein zurück, das schon ausgestreckt den Wannenrand erreicht hatte. Annas Herz klopfte wild. Die Puppe entglitt ihrer zitternden Hand. Der Puppenkopf zerbrach in tausend Scherben. Die Glasaugen kullerten über die Steine.
Etwas in Anna zerbrach.
Es erwachte die Scham.
Tränen liefen aus den Augen.
Nichts war wie vorher, an diesem Sommertag.
(c) Annette Gonserowski
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