Eigene Lyrik, Fotos und Bilder




Dieser Blog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.








10. Dezember 2007

Weihnachtliche Szene II


(c) Annette Gonserowski

Wieder ist Heiliger Abend, wieder geht sie den Weg hinauf zur Anhöhe. Von den Tannen fällt knisternd das Eis. Die Äste der alten Eiche knarren unter der Eislast. Der Weg ist durchzogen von Fußspuren, die vor ihr Gehende hinterließen, festgetreten und glatt.
Der Regen, der vom Osten treibt, ist durchsetzt mit Schneeflocken, die immer dichter werdend sie umtreiben. Den Hund hält sie an der Leine. Sein ungestümer Übermut, sein Vorwärtsdrängen, machen ihren Weg leichter.

Sie ist nachdenklich. Es ist der heilige Abend. Wieder liegt die Mutter im Krankenhaus, dieses Mal mit einem Herzinfarkt. Vor wenigen Stunden war sie bei ihr, hielt die schmal gewordene Hand, die übersät ist mit blauen Flecken rund um die Einstiche der Infusionsnadeln. Wie tapfer die Mutter ist, deren Kopf klein und zart geworden zwischen den Kissen zu versinken scheint. Die Rollen sind vertauscht: sie, die liebevolle Mutter, die Starke, die einst ihre Familie behütete, ist nun zart geworden, ihre Gesundheit ist filigran und verletzlich. Sie begibt sich bedingungslos in die Fürsorge ihrer Tochter. Die macht sich Sorgen, die sie mit auf diesen Weg nahm, die sie nun zu erdrücken scheinen. Sie geht auf der Anhöhe weiter, schaut hinunter ins Tal, in das sich ihr kleines Elternhaus schmiegt, dahinter, gut sichtbar im ehemaligen Apfelhof, ihr Haus.
Auf dem Weg ins Tal wird der Himmel heller, der Regen, der zum Schnee wurde, hört auf. Sie schaut sich um, sieht hinter sich den Abendschein rötlich über den schwarzen Tannenwipfeln. Da wird ihr bewusst, dass auch der Blick zurück tröstend ist und stark macht, für das Vorwärtsschreiten. Und noch etwas wird ihr bewußt: wer nur vorwärtsschaut, sieht niemals die Schönheit in dem Vergangenen.
(c) Annette Gonserowski

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen